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AutorenbildPascal Sure Can

Über die Übergriffigkeit der (Sing-)Stimmbewertung

Über die Übergriffigkeit der (Sing-)Stimmbewertung Professionell Singende haben es mit Sicherheit schon oft erlebt. Auch andere Menschen kennen es. Das schlechte Gefühl, das sich auftut, wenn die Stimme, der Stimmklang, von Anderen bewertet wird. Das können fremde Menschen sein, Familienmitglieder, Freundschaften oder Musiklehrende, etc. ,,Deine Stimme klingt nicht schön. Dein Vibrato nervt mich. Kannst du mit deiner Rabenstimme bitte ruhig sein? Also du kannst überhaupt nicht singen. Versuch es erst gar nicht.’’ Im Folgenden Essay soll hinterfragt werden, auf welchen Ebenen Ausdrücke, welche die Stimme bewerten, unangemessen und übergriffig sind. Zunächst muss hinterfragt werden, was Stimme für das menschliche Dasein bedeutet. So ist klar, dass Stimmlichkeit und Phonation erst mal lediglich die sekundäre Funktion des Kehlkopfes ist. Primär ist dieser geschaffen, um zu verhindern, dass Nahrung in die Luftröhre gelangen kann und vice versa. Eine andere Funktion hat der Kehlkopf noch inne, wenn bedacht wird, dass Körper in bestimmten Situationen - beispielsweise Geburt, Schreien, Stuhlgang, etc. - einen Gegendruck aufbauen muss. Dass der Mensch lernte zu sprechen, war evolutionär wichtig. Somit war der Grundstein für eine höhere Stufe des Denkens bereitgestellt. Heutzutage wäre das Leben ohne Stimme ein Erschwernis. Stimmlichkeit vereinfacht das alltägliche Leben ungemein. Wir bedienen uns der Sprache, vereinbaren eine Symbolik, damit unser Verständnis von der Welt ähnlich oder dasselbige wird. Warum genau ist denn eine Beleidigung der Stimme eine Beleidigung, die persönlich trifft? Die Frage zielt genau auf die Frage nach der Identität ab. Was ist Identität? Ist sie ein starres Selbstbild? Oder ist Identität etwas, das wird und nicht ist? Würde der Annahme nachgegangen werden, dass Identität ein starres Selbstbild ist, dann hätte es einige Unklarheiten zur Folge: Erstens wäre die Fragen nach dem Entwicklungszeitpunkt von enormer Wichtigkeit. Wann würde dieses starre Selbstbild sich ausbilden? Was war vor diesem Zeitpunkt? Zweitens würde es menschliche Weiterentwicklung limitieren, sogar unmöglich machen. Viel mehr ist Identität etwas, das sich in der Interaktion mit dem ,,Anderen’’ herausbildet. Denn erst in der Interaktion mit etwas Anderem werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich, die in die Identität münden. Wäre das Identitätsverständnis ein starres, wäre der Mensch zu irgendeinem

Zeitpunkt fertig, was dazu führen würde, dass Interaktion fast nicht mehr möglich sind, da die Wechselseitigkeit der Interaktions-Durchführenden und das Abgleichen vergangener Identitätsverständnisse eingefroren wäre. Das starre Identitätsbild würde, sofern es nicht von Selbstzweifeln überhäuft ist, sich selbst auch nicht einfach von einer lapidaren Bemerkung in Frage stellen. Die Annahme, die Identität sei hingegen irgendwie etwas, das wird und nicht ist, hilft dabei, das menschliche Wesen als etwas zu begreifen, das durchgehend vielen Einflüssen ausgesetzt ist und die durchgehend verarbeitet. Kulturvorschrift durch die Gesellschaftsnorm, Anforderungen aus dem engeren Sozialkreis, Anforderung durch den Beruf, um nur einen kleinen Teil zu nennen. Dabei gleicht mensch im Hier und Jetzt vergangene Erfahrungen ab, um Wirklichkeit zu reflektieren und zu bewerten. Innerhalb der Interaktion stellen Körper und Stimme Repräsentanten der Identität dar, einfacher gesagt: Die Identität zeigt sich durch die Darstellung von Körper und Stimme, die innerhalb eines sozialen Kontextes dargestellt, reflektiert, interpretiert, gedeutet, bewertet werden. Der Zusammenhang von Stimme und Identität/Persönlichkeit lässt sich anatomisch zumindest auch erahnen. Die direkte Muskulatur, die für die Phonation verantwortlich ist, wird über den Vagusnerv - N. vagus - innerviert. Dieser ist der zehnte Hirnnerv und gekoppelt an das vegetative Nervensystem. Das vegetative Nervensystem innerviert ebenfalls Atmung, Herzschlag, Verdauung - Bereich, auf die ein menschliches Subjekt keinen direkten Einfluss hat. Daraus sieht mensch schon die erste Erkenntnis: Stimme ist nicht direkt beeinflussbar. Somit wird Stimme zu etwas, das ,,irgendwie natürlich’’ produziert wird. Genauso wenig wie Herzschlag hässlich, nervig sein kann, so ist das mit der Stimme. Aber es geht noch weiter. Stimme ist also ein Teil des vegetativen Nervensystems. Stimme zeigt an, wenn wir glücklich sind, wenn wir uns unwohl fühlen (wer kennt nicht den Frosch im Hals bei Vorträgen, etc.), wenn wir traurig sind, etc. Sie wird also zu einem Fingerabdruck der Persönlichkeit - hier möchte ich noch einmal auf die Wortwahl des Werdens hinweisen! Stimme und Persönlichkeit sind also irgendwie dasselbige und irgendwie ist Stimme auch ein Indikator für die (menschliche) Gefühlswelt. Was uns dahin kommen lässt, Auffassungen eines Stimmklangs, der nicht gefällt, als ein persönliches Merkmal, das nicht gefällt, wahrzunehmen. Das macht den Gesangsunterricht eben so trivial. Einerseits müssen Übungen anhand der vorherigen stimmlichen Erscheinung sorgfältig ausgewählt werden, um die Stimme, den Stimmklang zu ,,verbessern’’ - in diesem Zusammenhang wäre Stimmbefreiung der bessere Begriff, wenn auch diffus verstanden. Gleichzeitig darf es nicht passieren,

generalisierte Aussagen über ein stimmliches Phänomen zu treffen. Ein Mittel, das oft in zwischenmenschlichen Begegnungen stattfindet: Generalisierungen. ,,Deine Stimme ist hässlich’’ gleicht einer ,,Du bist hässlich’’-Aussage, die das Subjekt in irgendeiner Form ablehnen soll. Diese Du-Bist-Sätze können jahrelang mitgetragen werden. Deren Auswirkungen können schwer vorhergesagt werden. Daher der einfache Tipp: Nicht machen :) Stattdessen können Sätze wie ,,mir hat nicht gefallen, wie du gerade diesen Songabschnitt gesungen hast’’ die Generalisierung aufheben, wenn ferner noch Argumente des Warums geliefert werden - (Für die Pädagogik gilt dies natürlich nicht: Stimmklang oder künstlerische Interpretation ist keine Frage der subjektiven Bewertung der Lehrenden!!!). Woher Menschen sich das Recht nehmen, Stimmklang zu bewerten, bleibt allerdings weiterhin übergriffig und die Motivation dahinter ein Rätsel.

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